Rennaissance der Mutualität. Vom « dritten Weg » zum dritten Wirtschaftspfeiler.

Mutualität bedeutet « Gegenseitigkeit », steht aber auch für Austausch, Miteinander, Gemeinschaft oder Solidarität. Hat dieser Gedanke eine neue Wichtigkeit in unserer heutigen Zeit? In der Evolutionsgeschichte ist es ein permanent aktives Phänomen und in der Biologie spricht man von der Interaktion von zwei verschiedenen Lebewesen die sich gegenseitig unterstützen ohne voneinander abhängig zu sein. Die moderne Form der Mutualität, wo Menschen sich dieses Prinzips bedienen um sich in schwierigen Situationen helfen zu können, nimmt seinen Ursprung im vorindustriellen Zeitalter und betrifft vornehmlich die Sicherung der Existenzen der Bürger. So waren es schon im siebzehnten Jahrhundert die Zusammenschlüsse in Berufs- oder konfessionellen Bruderschaften die für eine gewisse Sicherheit und Geborgenheit von Interessengruppen im Volk sorgen sollten. Diese Bewegung bekam dann, mit dem Beginn der industriellen Revolution, eine neue Dimension und erfüllte eine wichtige, humanitäre Funktion im sich enorm verändernden Staats-und Wirtschaftsgefüge. In der Tat, fühlten die Menschen sich  zu oft vom Staat, ebenso wie von der Wirtschaft, mit ihren elementaren Bedürfnissen allein gelassen und versuchten sich durch eine Form der Selbstorganisation vor den schlimmsten Auswirkungen zu schützen.

Die Idee der Mutualität beruhte somit auf dem Erkennen dass weder der Staat noch die Wirtschaft im Stande waren den Bedürfnissen der Menschen ausreichend gerecht zu werden. Im achtzehnten Jahrhundert formulierte der französische Denker und libertäre Sozialist Pierre-Joseph Proudhon in Anbetracht des sich immer radikaler zeigenden Kapitalismus und vornehmlich des Unvermögens des Staates sich um die Menschen zu kümmern, dass eine, heute würde man sagen « self-help »- Bewegung im Sinne der Selbstverwaltung nötig wäre um das schlimmste Leid zu verhindern. Im neunzehnten Jahrhundert war es der Ökonom und Philosoph Saint Simon der als einer der Vordenker der industriellen Gesellschaft gilt, welcher, sich stützend auf die Fundamente des aufkommenden Kommunitarismus, Ideen entwickelte wie die drei Säulen Staat, Wirtschaft und Volksvereinigungen, eine solidarischere Gesellschaft darstellen könnten. Konkreter wurde dieses Konzept Ende des Neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit den weiterführenden Ideen von Léon Bourgeois. Léon Bourgeois war ein französischer sozialistischer Politiker, Minister, Gründer  des « Parti républicain radical » und Friedensnobelpreisträger im Jahre 1920. Als erster spricht er präzise von einem « dritten Weg » zwischen Sozialismus und Kapitalismus und verankert damit den Mutualitätsgedanken in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext. Er fordert hierfür den Staat auf die Mutualitätsbewegung zu unterstützen und rät deren Mitglieder mit dem Staat zu kooperieren. Der Staat wird somit seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mehr und mehr in die Fragen der sozialen Sicherheit mit eingebunden, Stichwort: « Sozialstaat ». Zwischen den beiden Weltkriegen führt dies auch zu einer Welle von Verstaatlichungen von ganzen Wirtschaftszweigen- und Unternehmen. Als neuer französischer Präsident, aber vielleicht als letzter Initiator von Verstaatlichungen, hatte François Mitterand noch Anfang der achziger Jahre ein ganzes Programm aufgelegt um grosse Teile der französischen Wirtschaft zu verstaatlichen. Interessanterweise wurde die Befürchtung der ersten Protagonisten der Mutualität, zu riskieren sich einem übermächtigen Staat (Proudhon) auszusetzen, zu diesem Zeitpunkt deutlich und diese Unsicherheit nutzte dann der andere Akteur, nämlich der wirtschaftliche Kapitalismus um seine Ansprüche geltend zu machen. Die neoliberale Doktrin unter der Federführung von Milton Friedman und den Chicago Boys rollte das ganze Feld der sozialen Organisation auf und setzte auf die « Privatisierung ». Ronald Reagan und Margaret Thatcher wurden zu den Symbolfiguren dieser neuen Ordnung. In Deutschland aber, hatte zuvor , im Jahre 1969, Willy Brandt in seiner Regierungserklärung gefordert: « Wir wollen mehr Demokratie wagen ». Es ging ihm darum den Staat und seine Bürger in ein Gleichgewicht zu bringen um Verantwortungen auf beide Seiten besser verteilen zu können. Eine Vision die  einem « dritten Weg », wie er schon in den Anfängen von Léon Bourgeois beschrieben wurde, eine Zukunft geben konnte. Aber die Zukunftsvisionen dieser beiden Staatsmänner, fanden keine Weiterführung. Im Gegenteil, der neoliberale Ansatz gewann die Überhand und anstatt mehr Demokratie zu wagen, schlugen die Erben dieser Politiker, Tony Blair und Gerhard Schroeder, eine, der neuen Zeit angepasste, Methode vor um einen « dritten Weg » einzuschlagen. Zwischen Sozialismus und Kapitalismus hieß es nun: « Wir wollen mehr Kapitalismus wagen ». Diese Doktrin  geht aber einher mit dem Abbau des Sozialstaates, hat damit eine Entsolidarisierung der Gesellschaft zur Folge und lässt dem Mutualitätsgedanken nur ein wenig Raum an seiner Peripherie.

So auch in Luxemburg, wo es neben dem Mastodonten CMCM (Caisse médico-complémemtaire mutualiste) noch ungefähr an die Fünfzig kleinere Vereinigungen (oft Sterbekassen) gibt, welche alle in der FNML (Federation national de la mutualité luxembourgeoise) organisiert sind und nach dem Selbsthilfeprinzip, also durch die Beiträge der Mitglieder funktionieren. Geregelt im Gesetz vom 7 Juli 1961.

 

Das  Prinzip « mehr Kapitalismus wagen »  wurde nach den Legislativwahlen von 2009 dann aber auch auf die in Luxemburg entstehende Bewegung der Solidarwirtschaft angewand. Zu diesem Zweck wurde im Jahre 2013 die Plattform ULESS (Union Luxembourgeoise de l’Economie Sociale et Solidaire) ins Leben gerufen. Diese Föderation sollte die in Frage kommenden und sich dem mutualen und solidarischen Gedanken verbunden fühlenden, luxemburgischen Organisationen, welche sich vornehmlich als ASBL’S im Sozialbereich konstituiert hatten, geschlossen in diese neue Denk- und Handlungsweise hinüberführen.

 

In den sieben Jahren ihrer Existenz hat die ULESS recht wenig auf sich Aufmerksam gemacht und man findet aktuell auch sehr wenig Inhalt in Form von Analysen, Projektionen oder Hintergrundinformationen auf ihrer Homepage (www.uless.lu). Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus dass die ULESS noch immer ein Idenditätsproblem zu haben scheint. Seit ihrer Gründung scheint die Frage wer dazu gehören sollte und wer nicht, nicht gelöst worden zu sein. Auch in Bezug auf die Ziele ergibt sich keine Koherenz. Die Zusammensetzung der Mitglieder, meist Vereinigungen ohne Gewinnzweck, und der erwünschte wirtschaftliche Impakt passen nicht zusammen. Das drückt sich dann in verschiedenen auf der Webseite nachzulesenden Statements aus. Der seit Mai 2020 amtierende neue Direktor der ULESS spricht erstmals seit der Gründung wieder von der Wichtigkeit eines « dritten Wirtschaftspfeilers ». Diese Zielsetzung war auch der originäre Handlungsgrund für die Protagonisten der « Economie solidaire-Bewegung » Anfang 2000. Er meint daß eine Synthese aus dem französischen Modell, wo die ESS (Economie Sociale et Solidaire) sich eher an den Staat anlehnt und dem anglo-sächsischen Modell wo  das Privatkapital zu Gewinnzwecken in die ESS investiert, am vielversprechendsten wäre. Diese Analyse ist auf den ersten Blick verständlich, sie wurde aber schon in den Anfängen der Bewegung kritisch hinterfragt. Im Grunde genommen ist es keine Entscheidung ob es mehr Staat oder mehr Privatkapital sein sollte, sondern es ist wieder die Frage ob es mehr Demokratie oder mehr Kapitalismus sein sollte. Der neue Direktor beklagt sich auch daß so wenige Gesellschaften die Form einer SIS (Société d’impact sociétal) annehmen. Die SIS wurde 2016 gesetzlich eingeführt um, wie man sich zweifelhafterweise auszudrücken pflegt, der ESS eine legale Basis zu geben. Nun ist das Gesetz aber nur ein Gesetz das eine neue Gesellschaftsform beschreibt und nicht einen dritten Wirtschaftspfeiler. Zusammengezählt sind es laut der Webseite gerade mal 8 Gesellschaften die das Statut der SIS angenommen haben und dies seit fast 5 Jahren! Das ist nicht erfreulich für eine von der Luxemburger Regierung angekündigte Großoffensive im Bereich der ESS. Hierzu kann man auf der ULESS-seite lesen dass « en réalité, elle (SIS) ne fonctionne pas du tout » und dass eine komplette Überarbeitung des Gesetzes stattfinden muss. Zugleich Schuld am Nichtfunktionieren ist, laut dem neuen Direktor, ein anderes ungelöstes Problem : Nämlich das Gesetz zur ASBL (association sans but lucratif) aus dem Jahre 1928. Auch hier mahnt er eine Überarbeitung an weil das Gesetz nicht mehr zeitgemäss wäre und den Ansprüchen der in diesen Vereinigungen entwickelten Aktivitäten nicht gerecht werden würde. Das haben die früheren Protagonisten der Solidarwirtschft auch so gesehen und haben der Regierung im Jahre 2007 zwei fertige Gesetzesvorschläge übergeben (Die Autoren waren das Netzwerk OPE (Objectif Plein Emploi in Zusammenarbeit mit dem Arbeits- und Beschäftigungsministerium und der Chambre des Salariés). Der erste Gesetzvorschlag war eine « Proposition de loi sur les Associations d’Intérêt Collectif (AIC) » und damit eine komplette Überarbeitung des ASBL-Gesetzes von 1928. Der zweite Gesetzesvorschlag war eine « Proposition de loi portant institution d’un fonds pour l’économie solidaire » der unter anderem Regeln zur Finanzierung eines dritten Wirtschaftspfeilers beinhaltete. 

 

Romain Biever

Präsident von ILES (Institut Luxembourgeois de l’Economie Solidaire)

www.iles.lu

 

 

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