Europawahlen, wo bleibt die Stimme der Solidar- und Sozialwirtschaft (SSW)?

Im Weißbuch der Europäischen Union von 1993 « Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung » steht im Kapitel 10 « Gedanken zu einem neuen Entwicklungsmodell », folgendes: Wir haben heute in unserer Gemeinschaft ein Entwicklungsmodell das Arbeit und Natur, zwei unserer Hauptressourcen, suboptimal kombiniert. Das Modell ist gekennzeichnet durch eine ungenügende Nutzung der Arbeitsressourcen und eine übermäßige Nutzung natürlicher Ressourcen und führt zu einer Verschlechterung der Lebensqualität. Diese Sichtweise ergänzte die Kommission 2 Jahre später indem sie eine Mitteilung betreffend « eine Europäische Strategie zur Förderung lokaler Entwicklungs-und Beschäftigungsinitiativen (Kom(95) 0273-C4-0289/95) », veröffentlichte. Der eigentliche  neuzeitliche politische Startschuss für die Bewegung der SSW.

 

Die Bürger Europas werden jetzt wieder zu den Urnen gerufen um sich an der Gestaltung europäischer Politik zu beteiligen. Die Themen der Staatstragenden und gemäßigten Parteien der Mitte, zu deren Programmen sie sich äussern sollen, sind bekannt. Ein sozialeres Europa ist wohl das am meisten benutzte « Versprechen ». Makroaktionismus mit bürokratischen Verordnungen, aufbauend auf einer neoliberalen Politik, ein  gefühltes Europa also, als  direktives, überdimensionales Ganzes, hat sich nicht als der Hebel erwiesen, den man gebrauchen kann um soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Wenn also diese Makropolitik nicht zu greifen scheint, sollte man wenigstens versuchen sich der Denkweisen der neunziger Jahre zurückzubesinnen und vernachlässigte, aber vielversprechende Konzepte, wie die Lokalentwicklung, wieder auf die Tagesordnung setzen.

 

Viel war seinerzeit die Rede von Subsidiarität. Für Projekte oder Problemstellungen sollten dort Entscheidungen getroffen werden wo sie übersichtlich behandelt, und verständlich  mit den Bürgern diskutiert werden konnten. Und dies bestmöglich auf einer unteren politischen Verwaltungsebene, wie zum Beispiel den Kommunen. Auch die nachhaltige Entwicklung wurde nach dem Weißbuch von 1993 zum Schlagwort für eine neue Politik und dieses Wort hallt bis heute in den politischen Diskursen nach. Nur, nachhaltig blieb eine Politik der Globalisierung, die die Umweltschäden vorantrieb, Kriege legitimierte, die Finanzmärkte unseren Alltag gestalten ließ oder den Graben zwischen Arm und Reich vergrößerte. Eine Politik also die genau das Gegenteil produzierte von dem was sie uns mit dem Begriff Nachhaltigkeit versprochen hatte. Die Menschen für eine Politik zu gewinnen, welche ihren Interessen zuwiderläuft ist halt schwer und über die daraus resultierende « Politikverdrossenheit » braucht man sich weiter nicht zu wundern. Das ist Politik an den Menschen vorbei. Ist unsere Demokratie also in Gefahr?

 

Im Interview (L.W. 07.04.2019), von Diego Velasquez mit dem US-Ökonomen Dani Rodrick,  wird dessen These behandelt die besagt, daß es unmöglich ist Globalisierung, den Nationalstaat und die Demokratie gleichzeitig zu verwirklichen. Das hindert Rodrick aber nicht daran zu sagen dass wenn man die  Demokratie als höchstes Gut betrachtet, dem Nationalstaat dennoch eine imminent wichtige Rolle im heutigen Europa zukommen lassen soll. Und dies aus der einfachen Überlegung heraus um den Menschen es zu ermöglichen sich an Entscheidungen zu  beteiligen die sie selbst betreffen. Hier wird nicht der Nationalismus favorisiert, sondern diese Überlegung beruht auf der Tatsache, daß im Konzept einer demokratischen Globalisierung, wichtige Teile der globalisierten Bevölkerung aus nahezu allen gestalterischen und selbsterhaltenden Prozessen ausgeschlossen sind. « Die Herausforderung der Zukunft ist, sicherzustellen, daß jeder einen zufriedenstellenden und guten Job hat, der stabil ist und den Bedürfnissen und Kompetenzen der lokalen Gemeinschaft angepasst ist ».  Ähnlich sieht es der Journalist David Goodhart (The populist revolt and the future of politics) der das grosse Problem der (Nicht)-Teilhabe in unserer Gesellschaft dort ortet wo sich ein Graben, auftut zwischen denen , wie er sie nennt: « Metropoliten und der Landbevölkerung ». Da es nur noch  eine ökonomisch argumentierte Mainstream-Politik gibt fände jetzt keine politische Auseinandersetzung in der Gesellschaft mehr statt, sondern eher eine solche zwischen, auf der einen Seite, gebildeten, mobilen Menschen die überall auf der Welt zu Hause sind und autonom und flexibel leben und denken. Und solchen, weniger gebildeten, die eine bestimmte Bodenständigkeit als ihr Habitat anführen und so eher die Gruppe und die Sicherheit bevorzugen.

Beide Theorien haben gemeinsam daß sie uns Erklärungen liefern zu dem heute grassierenden Rechtspopulismus, dem neuen Nationalismus und dem Hegemoniestreben der wichtigen und machtvollen Akteure. Sie zeigen aber auch wie wichtig der Ansatz von der EU von 1993 war auf lokale Initiativen zu bauen. Kleinstmögliche Unitäten fördern, als Schlüssel zur Überwindung von sozialer Ungerechtigkeit, Immigrationsproblemen oder zum Umweltschutz. Lokal wirtschaften und arbeiten als Gegenpol zur globalisierten Unternehmenspolitik. Wären diese Positionen nicht auch die imminent wichtigsten im Jahre 2019. Warum werden diese Bereiche heute, wenn überhaupt, so wenig thematisiert? Wo sind die Protagonisten der SSW welche sie lautstark in den Vordergrund stellen müssten? Wenn sie dieses Feld den Politikern überlassen, dann werden sie vom Big Business vereinahmt und mutieren zu Akteuren des « social entrepreneurship ». Dann sind sie gefangen im Konkurrenzdenken und werden, ob sie es wollen oder nicht, apolitisch und Teil des globalen Wettbewerbs.

 

Lokal und sinnvoll Wirtschaften im Zeitalter der beginnenden industriellen Revolution war schon in Großbritannien im Jahre 1844 eine Option. Es war die Geburtstunde der (Produktions)-Kooperativen. Im gleichen Zeitraum entstanden in Frankreich die « associations de production » und in Deutschland die « Raiffeisenbewegung ». Alles konkrete, von initiativfreudigen, verantwortungsvollen aber auch verarmenden Bürgern getragene Gegenbewegungen zu einer sich anbahnenden Diktatur der Laissez-Faire-Ökonomie. Es erfordete politischen Mut diesen Mutualitätsgedanken zu verteidigen und nicht wenige Urheber und Mitglieder wurden Opfer von politischer Verfolgung. Durch die zwei Weltkriege verschwand diese Art des Wirtschaftens fast vollständig  von der Bildfläche und wurde teilweise durch den Sozialstaat wie wir ihn heute kennen ersetzt. Daraus entstand aber nicht unbedingt ein gerechteres Gesellschaftsmodell, sondern, inherent  angelegt in diesem Konzept ist die neue Abhängigkeit der sozial Schwachen. Es ist einigen Denkern und Aktivisten zu verdanken dass Menschen in Not wieder zu Lösungen fanden welche auf den oben genannten Prinzipien beruhten und in den sechziger Jahren, auf der Basis des « Self-help » eine neue, emanzipatorische Lebensperspektive entwickelten konnten. Es waren die Vorreiter der modernen Solidarwirtschaft.

 

Der österreischiche Philosoph Leopold Kohr, dessen bekanntester Satz wohl  « Small is beautuful » ist, ging davon aus daß das zentrale Problem der menschlichen Existenz, im sozialen und physischen Sinn, die « Größe » ist. Er playdierte, im politischen Sinn für eine  erstrebenswerte Eigenverantwortung und Selbstorganisation in einem überschaubaren Gemeinwesen. Oder Karl Polanyi. Die von Polanyi aufgestellte Theorie besagt daß nicht die Ökonomie oder der Markt uns vorgibt wie wir das soziale Zusammenleben zu organisieren haben, sondern daß dies radikal anders gedacht werden muß und daß sich Marktprozesse wieder in das bestehende Sozialgefüge einbetten müssen.  Das erklärt den oft gebrauchten Satz von Akteuren der SSW, daß der Mensch wieder im Mittelpunkt des ökonomischen Handelns stehen muß. Wichtig für diesen gesellschaftspolitischen Entwurf waren auch die Arbeiten von André Gorz.  Seine Wachstumskritik, seine These, daß Recht auf Arbeit untrennbar mit dem Bürgerecht verknüpft ist und vor allem  sein Beitrag zur politischen Ökologie, machen aus ihm einen direkten Wegbereiter für die SSW. Unter anderen sind diese Ansätze fundamental, wenn man den Auftrag der SSW verstehen will. Fundamental, natürlich auch für eine damals in den achziger Jahren aufkommende neue politische Kraft, in Form der Partei der Grünen. Man muß aber feststellen daß die « Grünenbewegung » sich im Laufe der Zeit vielleicht zu sehr auf den Makroökologischen- und den Machtanspruchsaspekt konzentriert hat um noch wirklich glaubhaft die soziale Komponente vertreten zu können.

 

Wie alle anderen Volksparteien auch, riskieren die Grünen, die in absehbarer Zeit im selben Mainstream schwimmen werden, durch den unsäglichen Diskurs, daß wir nur als ein Big Player (ökologisch wie ökonomisch) in der Welt bestehen können, die Menschen zu verlieren. Nichtsdesto trotz bleibt der Dreiklang der Nachhaltigkeitsstrategie wichtig, vielleicht sollte er aber in einer neuen Reihenfolge zitiert werden: Soziales, Ökologie und Wirtschaft. Makropolitik muß mit Mikroprojekten organisch verbunden bleiben. Die lokale Dimension bleibt enorm wichtig und die SSW muß sie wieder in den Mittelpunkt stellen. Die Bürger die zur Europawahl gehen müssen spüren dass sie Lokal etwas bewegen wenn sie Europa wählen.

 

Romain Biever

Präsident von ILES

 

(Institut Luxembourgeois de l’Economie Solidaire)


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